Vom kundenspezifischen Problemlöser zum skalierbaren Produktunternehmen
- Ronny Mees

- 11. Dez.
- 5 Min. Lesezeit
Wie Mittelständler das Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Wachstum meistern
Warum die alte Erfolgsformel im globalen Wettbewerb nicht mehr ausreicht – und was stattdessen trägt
Auf der SPS Nürnberg 2025 traf ich wieder auf das vertraute Bild: Mittelständische Unternehmen, die jahrzehntelang erfolgreich als flexible Problemlöser agiert haben und nun an einer kritischen Schwelle stehen. Die "Globalen Leader", die "Hidden Champions" und die "maximal kundenorientierten Spezialisten" – sie alle eint eine Frage: Wie schaffen wir profitables Wachstum, ohne unsere Kundenbindung zu gefährden?
In Workshops höre ich dabei immer wieder einen Satz, der diese Sorge auf den Punkt bringt: "Wenn ich weniger kundenspezifisch arbeite, geht mein Kunde ins Ausland."
Dieser Satz wirkt auf den ersten Blick defensiv schützend – in Wahrheit blockiert er oft jede strategische Weiterentwicklung. Denn er verdeckt das eigentliche Problem: Nicht die fehlende Kundenspezifik ist das Risiko, sondern eine unklare Positionierung im Wettbewerb und fehlende Skalierbarkeit.
Das Spannungsfeld: Wenn zwei Erfolgslogiken kollidieren
Viele erfolgreiche Mittelstandsunternehmen sind als "kleiner" Problemlöser gestartet und über Jahrzehnte mit diesem Ansatz gewachsen. Das Versprechen war klar: "Wir bauen für jeden Kunden genau das, was er braucht." Und es funktionierte aus guten Gründen:
Markteintritt: Sonderlösungen öffneten Türen zu Kunden, die Standardanbieter nicht bedienen konnten oder wollten
Kundenbindung: Gemeinsame Projekte, Co-Engineering und "Feuerwehr-Einsätze" schweißen zusammen
Margenpotenzial: Individuelle Lösungen lassen sich höher bepreisen
Differenzierung: "Das kann sonst keiner" ist in vielen Branchen keine leere Phrase
Doch spätestens wenn das Unternehmen vor neuen Herausforderungen steht – zweistellige Wachstumsziele, Internationalisierung, neue Wettbewerber aus Asien, steigender Kostendruck bei Kunden – zeigt sich:
Die alte Logik "Wir bauen für jeden Kunden genau das, was er braucht" und die neue Logik "Wir wachsen profitabel im globalen Wettbewerb" passen nicht mehr ohne Reibung zusammen.

Im Alltag wird das sehr konkret sichtbar:
Engineering ist chronisch überlastet
Roadmaps sind eher Listen laufender Kundenprojekte als klare Produktstrategien
10-20 Kunden bestimmen den Großteil des Umsatzes – und damit auch die Prioritäten
Der Aufwand pro Projekt steigt, die Marge bleibt hinter den Erwartungen zurück
Das Unternehmen versucht, mit den Werkzeugen eines Projektgeschäfts die Anforderungen eines Produktunternehmens zu erfüllen – und zahlt dafür mit steigender Komplexität und sinkender Skalierbarkeit.
Die drei Denkfehler hinter der Angst vor Standardisierung
Schauen wir genauer hin, warum der Satz "Ohne Kundenspezifik wandert mein Kunde ins Ausland" so hartnäckig überdauert, stecken meist drei Denkfehler dahinter:
Denkfehler 1: Standard = Commodity = billig
"Standard" wird automatisch mit "austauschbar und billig" gleichgesetzt. Das muss aber nicht so sein. Es gibt hochwertige Standardprodukte mit klarer Performance, differenziertem Kundennutzen, Zertifizierungen, Servicekonzepten und Roadmaps. Kunden sind durchaus bereit, für geringere Risiken, gute Integration und zuverlässigen Support mehr zu zahlen.
Standard bedeutet: Die Lösung ist definiert, wiederholbar und skalierbar – nicht automatisch billig und austauschbar.
Denkfehler 2: Kundenspezifik = sichere Kundenbindung
Kundenspezifische Lösungen werden oft als "Klebstoff" gesehen: Der Kunde kommt nie wieder raus. In der Praxis zeigt sich aber: Wenn Gesamtaufwand und Risiken zu hoch werden, oder wenn Lieferfähigkeit und Qualität nicht mehr stimmen, sucht der Kunde trotz aller Kundenspezifik nach Alternativen. Große Unternehmen, vor allem ehemalige Monopolisten, haben mit dieser "Klebstoffstrategie" bereits existenzgefährdende Erfahrungen machen müssen.
Denkfehler 3: Ohne Kundenspezifik habe ich nichts zu bieten
Der gefährlichste Punkt: Wenn ein Unternehmen seine gesamte Differenzierung auf "Wir machen alles kundenspezifisch" stützt, bleibt wenig übrig, sobald Standardisierung nötig wird. Die eigentliche Frage lautet deshalb: Worin liegt unser Mehrwert, wenn wir Teile unseres Angebots standardisieren? Wer darauf keine klare Antwort hat, hat ein Strategieproblem – kein Standardproblem.
Nicht jeder Kunde ist zu halten – und das ist in Ordnung
Ehrlich, aber notwendig: Nicht jeder Kunde lässt sich durch Kundenspezifik "retten". Grob lassen sich drei Kundentypen unterscheiden:
Reine Preisjäger: Sie kaufen, wo es heute am günstigsten ist, und tragen für Kostenvorteile Integrations- und Wechselaufwand. Diese Kunden lassen sich langfristig nur mit Kostenführerschaft halten – für viele Mittelständler unrealistisch.
Leistungsorientierte Optimierer: Sie achten auf Preis, aber genauso auf Risiko, Service, Integration und Lieferfähigkeit. Genau hier liegt das Feld, in dem Standardlösungen mit Mehrwert eine echte Chance haben.
Strategische Partnerkunden: Sie haben einen hohen Umsatzanteil, gemeinsame Entwicklung und lange Historie. Hier bleibt Kundenspezifik wichtig – aber idealerweise auf Basis einer Plattform, nicht als kompletter Einzelbau.
Versucht man, alle Kunden um jeden Preis über Kundenspezifik zu halten, überdehnt man die Organisation – und verliert am Ende trotzdem Kunden.
Was wirklich gegen Billigstandard schützt
Statt reflexartig mehr Kundenspezifik zu versprechen, wirken folgende Stellhebel tatsächlich gegen Billigstandard:
Total Cost of Ownership (TCO) statt Stückpreis
Der günstigere Stückpreis aus dem Ausland ist nur ein Teil der Wahrheit. Mögliche Kostentreiber bei Billigstandard:
Höhere Ausfall- und Stillstandskosten
Mehr interner Engineering- und Integrationsaufwand
Längere Lieferzeiten und unsichere Lieferketten
Fehlender Service, keine schnelle Vor-Ort-Unterstützung
Wer seine Angebote systematisch auf TCO argumentiert, verschiebt das Gespräch von "Ihr seid 20% teurer" hin zu "Was kostet Sie diese Alternative über die Laufzeit wirklich?".
Verfügbarkeit, Liefersicherheit, Risikoübernahme
In vielen Branchen ist heute Lieferfähigkeit wichtiger als der letzte Rabatt:
Verbindliche Lieferpläne, Rahmenverträge, Lager- oder Konsignationsmodelle
Langfristige Verfügbarkeit von Komponenten und Plattformen
Klare Service-Level und Reaktionszeiten
Das sind Dinge, die ein reiner Billigstandard-Anbieter oft nicht leisten kann – und die nichts mit "noch mehr Kundenspezifik" zu tun haben.
System- und Anwendungskompetenz
Ein Unternehmen kann auch mit standardisierten Produkten einzigartig sein, wenn es:
Die Anwendung des Kunden in Tiefe versteht
Integrationsrisiken minimiert
Mit dem Kunden gemeinsam die "richtige" Lösung auswählt und auslegt
Die Differenzierung verschiebt sich dann von der technischen Einzigartigkeit hin zur Kompetenz in Beratung, Applikation und Integration.
Der Übergang: Von der Projekt- zur Produktlogik
Was sich in der Kundenbeziehung ändern muss, ist vor allem die Rolle: Vom reaktiven Problemlöser ("Was brauchen Sie, wir machen das schon.") hin zum führenden Partner ("Das ist unsere Plattform, das sind Varianten und Roadmap – lassen Sie uns Ihre Anforderungen darauf abbilden.").
In Unternehmen, die den Sprung vom Spezialisten zum globalen Wettbewerber schaffen, sieht man oft ähnliche Muster:
Von Einzelprojekten zu Plattformen: Wiederkehrende Funktionen werden in eine technologische Plattform überführt. Kundenspezifisches findet – wenn überhaupt – auf klar definierten Ebenen statt (z.B. Software-Layer, Mechanik-Baukasten).
Von "jedem alles recht machen" zu Segmentfokus: Klare Entscheidung, welche Branchen, Anwendungen und Leistungsklassen die Zukunft tragen – und wo man bewusst nicht mehr in jede Kundenspezifik einsteigt.
Von Ingenieurslogik zu Produktmanagementlogik: Produktmanagement übernimmt die Verantwortung für Portfolio, Business Cases, Roadmaps und Lebenszyklen – Engineering liefert exzellent aus, aber nicht mehr allein nach Bauchgefühl und Kundenlautstärke.
Das tragfähige Zielbild: Plattform + Optionen + begrenzte Kundenspezifik
Standardisierung bedeutet nicht "Ab morgen sind alle Kunden gleich". Ein tragfähiges Zielbild sieht oft so aus:
Basissystem/Plattform: Klar definierte Produkte, Module, Varianten
Konfigurierbare Optionen: Definierte Auswahl an Möglichkeiten, die sauber kalkuliert und lieferbar sind
Begrenzte Kundenspezifik: Echte Spezialanpassungen, aber nur für definierte Kundentypen (z.B. A-Kunden, strategische Projekte), mit klarem Prozess und Engineering-Bepreisung, auf Basis der Plattform
So bleibt:
Gefühlte Individualität beim Kunden
Echte Skalierung im eigenen Geschäft
Und eine klar steuerbare Komplexität
Praktische erste Schritte – ohne die Organisation zu überfordern
Wie kann man das Spannungsfeld pragmatisch angehen? Ein paar erprobte Ansätze:
Portfolio sichtbar machen: Welche Lösungen sind echte Standards, welche nur "getarnte" Einzellösungen? Wo haben wir heute schon 70-80% Wiederverwendung?
Standard- vs. Sonderquote definieren: Für neue Angebote wird eine Zielgröße festgelegt (z.B. "mindestens 70% Plattformanteil, maximal 30% kundenspezifisch").
Plattform-Projekte vom Tagesgeschäft entkoppeln: Kapazitäten im Engineering werden klar getrennt. Diese Plattformroadmaps müssen hart gegen kurzfristige Projektwünsche verteidigt werden – das kann schmerzhaft sein.
Vertrieb fit machen für "Standard + Optionen": Die Angebotslogik muss umgestellt werden: Basissystem + definierte Optionen + klar bepreister kundenspezifischer Anteil. Argumente zu TCO, Verfügbarkeit, Risiko und Service sollten dabei mitgegeben werden.
Pilotkunden für den neuen Ansatz gewinnen: Mit 2-3 passenden Kunden geht man bewusst den neuen Weg. Die Erfahrungen werden dokumentiert und intern als Erfolgsstory genutzt.
Wie man das intern und extern kommuniziert
Oft ist der Einwand "Dann geht der Kunde ins Ausland" weniger ein Marktargument als ein Vertriebs- und Kulturthema. Hilfreiche Ansätze:
Klare Story entwickeln, am besten entlang der Customer Journey
"Plattform + Optionen + definierte Kundenspezifik" als einfach erklärbares Modell
Intern: Schulung von Vertrieb und Key-Account-Managern
Leitplanken für Zusagen definieren: Was darf Vertrieb ohne Rücksprache zusagen?
Erfolgsbeispiele sichtbar machen: Projekte zeigen, in denen standardnahe Lösungen erfolgreich durchgesetzt wurden




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