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Fünf frische Flops – wie Produktmanagement & Führung die Dynamik retten, ohne das Risiko zu ignorieren

Ein Beitrag von Ronny Mees

Einleitung


Die vergangenen Monate haben in Industrie, Infrastruktur und IT-Hardware mehrere prominente Fehlschläge geliefert. Jenseits der Schlagzeilen steckt ein Muster: zu früh skaliert, zu dünn im Feld validiert und Betrieb/Service zu spät mitgedacht. Dieses Stück ordnet fünf Fälle ein, leitet daraus prozessnahe Handlungsempfehlungen ab und zeigt, wie sich Risiko spürbar senken lässt, ohne die Geschwindigkeit zu verlieren. Fachbegriffe nutze ich bewusst in der hierzulande üblichen Form (z. B. Time-to-market, Stage-Gate, Go/No-Go, Canary-Rollout, Feature Flag, Auto-Rollback).


Was genau schiefging – fünf Fallskizzen, verständlich erzählt


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1) Batteriezellen (Industrie)Ein europäischer Hoffnungsträger wollte Zellproduktion im Rekordtempo hochfahren. Die Realität: Yield (Ausbeute) und Qualität stabilisierten sich langsamer als geplant, Lieferzusagen bröckelten, Großaufträge kippten. Der Rest ist Bilanzgeschichte. Die Lehre ist simpel: Skalierung folgt Feldreife – nicht umgekehrt.


2) Windplattform 5.X (Infrastruktur)Die Plattform versprach viel Leistung, doch „blade liberation“-Vorfälle (abgelöste Rotorblätter) und Stillstände unterstrichen: Der Rollout war schneller als die Feldvalidierung. Hier fehlte ein hartes Stage-Gate mit echter Stop-Authority von Qualität und Service.


3) Humane AI Pin (IT-Hardware/Wearables)Als „Phone-Ersatz“ gedacht, im Alltag kaum angekommen. Nach kurzer Zeit wurde der Cloud-Dienst eingestellt; vielerorts verstummten die Geräte über Nacht. Jobs-to-be-done (konkrete Alltagsaufgaben mit Zahlungsbereitschaft) waren nicht belastbar belegt – Vision > Nutzen.


4) Juni-Outages bei KI-/Cloud-Plattformen (Infrastruktur/IT)Innerhalb von 48 Stunden trafen großflächige Störungen mehrere Kernanbieter. Zwischen den Zeilen stand ein altbekanntes Governance-Thema: Änderungen mit zu großem Blast Radius, zu wenig Canary-Rollout, zu wenig Feature Flags. Technik erklärt Symptome – Change-Routinen lösen Ursachen.


5) Kalifornisches H₂-Netz (Infrastruktur)Viele Stationen, große Ambition – und dann Uptime-Probleme, Zusatzaufwand, Vertrauensverluste. Der Kernfehler: Betrieb als nachgelagerte Disziplin behandelt, statt als Bestandteil des Produkts (Ersatzteile, Remote-Diagnose, Schulung, klare SLAs und einfache „Do/Don’t“-Bedingungen).


Ein persönlicher Einschub: Was ich gelernt habe – ohne Namen, ohne Details


Ich habe einmal eine Entscheidung verantwortet, die auf dem Papier hervorragend aussah und im Markt sofort Anklang fand: Eine Funktion unseres Produkts aus der passiven Infrastruktur adressierte sehr präzise einen Jobs-to-be-done-Bedarf. Im Labor war die Funktion robust, in Referenzaufbauten ebenfalls. In der Breite der Rechenzentrumsrealität zeigte sich jedoch etwas, das wir in der Bewertung unterschätzt hatten: Installations- und Umgebungsvariabilität.

Es waren keine Themen wie Wiederanlaufzeiten oder Redundanz. Stattdessen wirkten kleine Unterschiede im Feld – Toleranzen, Einbaupositionen, Abstände, Materialübergänge, Erdungs-/EMV-Umgebung – in Summe so stark, dass die attraktive Funktion ohne zusätzliche Vorkehrungen nur eingeschränkt nutzbar war. In der Konsequenz mussten die Operations temporäre Zusatzmaßnahmen einziehen: erweiterte Abnahmen vor Inbetriebnahme, engere Montagerichtlinien, zusätzliche Prüf-/Messschritte und klar eingehegte Einsatzbedingungen. Das funktionierte – war aber nicht das Erlebnis, das wir versprochen hatten.

„Ich habe die Feldvariabilität unterschätzt. Der Job-to-be-done war richtig – unser Toleranzfenster dafür war zu eng.“

Für das Nachfolgeprodukt haben wir die Lehre konsequent umgesetzt: Design-to-Service ab Tag 1 (Service-Stückliste, eindeutige „Do/Don’t“-Spezifikationen, Remote-Diagnose), ein breiteres Toleranzfenster für die kritische Funktion, Montage-Ergonomie, die korrekte Installation wahrscheinlicher macht, sowie ein schlankes, standardisiertes Site-Acceptance-Vorgehen, das ohne Sonderprüfungen auskommt. Heute läuft die Funktion unter normalen Bedingungen ohne zusätzliche Vorkehrungen stabil – genau wie Kund:innen es erwarten. Und weil Zahlen am Ende zählen: Wir haben die Zusatzabnahmen von 3 auf 0 reduziert.

Übertragbare Lehre: Time-to-market ist nur dann ein Vorteil, wenn die Felderfahrung von Anfang an mitgedacht ist. Ein überzeugender Job-to-be-done braucht ein Produkt, das die Varianz der realen Umgebung aktiv einkalkuliert.

Was diese Fälle über Führung & Organisation verraten

Die Technik ist selten das eigentliche Problem. Es sind Entscheidungslogik und Verantwortungszuordnung:

  • Premature Scaling: Volumen und externe Zusagen vor stabiler Yield/Qualität. Das ist kein Mut, das ist Blindflug.

  • Time-to-market über Validierung: Feld- und Dauerhaltetests (unter echten Bedingungen) zu kurz; Probleme entstehen am teuersten Ort – beim Kunden.

  • Betrieb als Afterthought: Uptime, Ersatzteile, Remote-Diagnose, Runbooks und klare SLAs sind Produktmerkmale, keine spätere Betriebsfrage.

  • Schwaches Change-Management: Änderungen ohne Canary-Rollout, ohne Feature Flags, ohne Auto-Rollback – und ohne bewusst begrenzten Blast Radius.


Was jetzt zu tun ist – konkret, aber ohne Bürokratieballast


Stage-Gate mit „Field-Proven“ als harter Bedingung

Ein Produkt ist erst skalierbar, wenn im Feld belegt ist: stabile Yield, niedrige Defect-Escape-Rate (wie viele Fehler gelangen trotzdem zum Kunden?) und eine MTBF (mittlere Zeit bis Ausfall), die zum Vertrag passt. Qualität/Service erhalten Stop-Authority – echte Go/No-Go-Entscheidungen, nicht symbolische. Ja, das kostet Time-to-market. Es spart dafür Nacharbeit, Gewährleistung und Stornos – und schützt die Marke.


Design-to-Service ab Tag 1

Vor „GA“ (General Availability) sind Service-BoM, Ersatzteil-SLA, Remote-Diagnose, Rollback-Pfad/Fallback-Firmware und Runbooks freigegeben. Nicht als Checkliste zum Abhaken, sondern als Designziel: „Einfach zu betreiben“ gehört in die Spezifikation – wie Leistung und Kosten.


Risiko-Burndown vor Volumen

Jede Ramp-Stufe besitzt eine Top-5-Risikoliste (technisch und betrieblich) plus Evidenz, dass die Risiken kleiner werden. Erst dann geht es in die nächste Stückzahl- oder Rollout-Stufe. Das reduziert „Großbrände im Feld“ und stabilisiert den Cash-Conversion-Cycle.


Sicheres Ändern – für Cloud und vernetzte Geräte

Standardisieren Sie Canary-Rollouts (erst kleine Kohorten), Feature Flags (Schalter zum Abschalten) und Auto-Rollback (automatisch zur stabilen Version). Kartieren Sie Abhängigkeiten und testen Sie „unter Last“. Transparenz ist gut, Prävention ist besser.


Go/No-Go an Jobs-to-be-done koppeln

Vor einem Hardware-Launch stehen drei echte, bezahlte Use-Cases – mit messbar geringerer Reibung (z. B. Time-on-Task). Ein externes

Red-Team demontiert die Story vorab. Besser intern bluten als extern scheitern.


Steuerungsimpulse für die Geschäftsführung –

Dynamik erhalten, Risiko begrenzen


Portfolio-Fokus und echte Kill-Rate

Pro Business Unit maximal ein großer Ramp-Up parallel; weitere erst nach drei stabilen Produktionszyklen. Eine quartalsweise Portfoliorunde beendet Projekte ohne Nutzenbelege. So sinken CAPEX und Working Capital – und die Organisation gewinnt Klarheit.

Zwei-Geschwindigkeiten-Organisation

Explore (schnell, experimentell) und Scale (strenge Gates, starke QA/Service-Einbindung) sind getrennte Pfade; der Wechsel erfolgt erst nach „Field-Proven“. So bleibt die Innovationsgeschwindigkeit hoch, während das Skalierungsrisiko sinkt.

Betrieb zur Chefsache machen

SRE (Site Reliability Engineering), Service und Field-Ops sitzen gleichberechtigt im Lenkungskreis; variable Vergütung an SLOs (Service Level Objectives) koppeln. Wer die Uptime verantwortet, muss auch Prioritäten setzen dürfen.

End-of-Service-Politik (EoS/EoL) für vernetzte Produkte

Mindestlaufzeiten für Cloud-Funktionen, Fallback-Firmware und transparente Kompensation sichern Kundenschutz – und vermeiden Vertrauensverluste durch abrupte Abschaltungen.


Wirkung auf Umsatz & Gewinn – realistische, grobe Richtwerte


Die Bandbreiten variieren nach Branche – die Größenordnung ist belastbar:

  • Weniger Feldfehler durch „Field-Proven“-Gate: Garantie/Nacharbeit liegen in Industrie/Infra oft bei 2–6 % des Umsatzes. Eine 30–50 %-Reduktion der Defect-Escape-Rate hebt die EBIT-Marge typischerweise um +0,6 bis +1,5 Prozentpunkte.

  • Mehr Uptime & reifere Changes: Weniger Pönalen, höhere Bestandskundenbindung (NRR, Net Revenue Retention). In einem 200 M€-SaaS/Service-Geschäft sind +4–10 M€ Jahresumsatz und +2–6 M€ zusätzlicher EBIT plausibel – abhängig von der Bruttomarge.

  • Weniger Kapitalbindung durch Portfolio-Fokus: 50–100 M€ weniger gebundenes Kapital (CAPEX/Working Capital) sparen bei 8–12 % Kapitalkosten 4–12 M€ p. a. – plus weniger Write-offs bei Fehlprojekten.

  • Saubere EoS-Politik: Vermeidet Refunds und Rechtskosten, stabilisiert Abo-Erlöse; +0,5–2 pp Marge auf betroffene Linien sind keine Seltenheit.


Kurz-Glossar (ein Satz pro Begriff)


Yield: Ausbeute, Anteil fehlerfreier Teile. Defect-Escape: Fehler, die trotz Tests zum Kunden gelangen. MTBF: mittlere Zeit zwischen Ausfällen. Stage-Gate: verbindliche Freigabestufen mit Kriterien. Go/No-Go: Starten oder Stoppen. Canary-Rollout: erst kleine Nutzer-/Anlagenkohorte, dann breiter. Feature Flag: Schalter zum Aktivieren/Deaktivieren von Funktionen. Auto-Rollback: automatische Rückkehr zur letzten stabilen Version. Blast Radius: Reichweite eines Fehlers. SRE/SLO: Zuverlässigkeitsteam/Serviceziel. EoS/EoL: Ende des Dienstes/Produktlebens. CAPEX/Working Capital: Investitionen/gebundenes Betriebskapital. Time-to-market: Zeit von Idee bis Markteintritt. Jobs-to-be-done: konkrete, zahlungswürdige Kundenaufgabe.


Schlussgedanke


Diese Flops sind keine Launen des Schicksals, sondern verlässliche Signale: Wer Stage-Gates durchsetzt, Servicefähigkeit ab Tag 1 mitentwickelt und Change-Routinen professionalisiert, senkt Risiken und wird schneller – weil weniger Feuer gelöscht und mehr Wert geliefert wird. Mein eigenes Beispiel hat es mir unmissverständlich gezeigt: Zusatzabnahmen von 3 auf 0 sind nicht nur eine Zahl, sondern der Beweis, dass Feldreife und Dynamik sich nicht ausschließen – sie bedingen einander.

 
 
 

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